Die Herrinnen des Mondes

Es war der 4. August 1984 als Oman auf der Weltkarte endgültig sein Alleinstellungsmerkmal bekam. Es war der Tag, an dem sich das westafrikanische Obervolta in Burkina Faso umbenannte, und Oman nun das einzige Land war, dessen Name mit einem O beginnt. Es war aber eine Nachricht, die in den Gazetten nicht auf Seite Eins erschien. Es war sicher auch nicht der Tag, an dem Oman einzigartig wurde. Einzigartig wurde Oman wohl erst mit diesem Buch! Große Worte, ja. Aber, schon auf den ersten Seiten erfährt man mehr über Oman als aus so mancher Reisebroschüre. Jokha Alharthi bekam dafür als erste arabische Frau den Booker Prize, sie war die erste Omani, die ins Englische übersetzt wurde. Und nun auch ins Deutsche.

Es ist die Geschichte von Drei Schwestern: Chaula, Asma und Mayya. Letzte ist eine geschickte Näherin. Sie betet brav. In ihren Gebeten bittet sie Gott ihn noch einmal sehen. Ihn, den Unbekannten. Nur sehen will sie ihn. Nicht sein Gesicht ist ihr wichtig, sie will ihn einfach nur sehen. Doch dann platzt der Antrag vom Sohn des Händlers Sulayman in die Idylle. Mayya hat noch keinen Gedanken ans Heiraten verschwendet. Klar, mit ihren Schwestern hat sie darüber gesprochen, was sie in einem Buch gelesen haben. Sie haben gelacht und sich eine Zukunft in groben Zügen ausgemalt. Doch nun geht es Schlag auf Schlag. Keine Luft zum Atmen. Hochzeit, Kind, Ehe. Die Szene der Geburt der schmächtigen Tochter lässt die Erwartungen der Eltern (und wahrlich: Beide haben ganz unterschiedliche Erwartungen an den Nachwuchs!) bildhaft erscheinen. Der eigentliche Geburtsvorgang wird Manche überraschen: Die Vorurteile gegenüber Geburten in Krankenhäusern – christlichen Krankenhäusern, im Liegen etc. – sorgt für die ersten Aha-Momente im Buch. Und dass Mayya ihr Kind London nennen will, sorgt vielleicht für ein Schmunzeln. Für die Familie Mayyas ist es weitaus mehr.

Mayyas Geschichte, die Lebensläufe ihrer Schwestern, ihrer Vorfahren und ihrer Nachkommen stehen exemplarisch für den rasanten Wandel Omans. Bis in die 60er Jahre war hier nicht viel mehr als Sand. Die reichhaltige Kultur – schon vor einem halben Jahrtausend gingen hier die Portugiesen vor Anker und betrieben regen Handel – war ein verborgener Schatz. Mit dem Erdöl und der damit verbundenen industriellen Veränderung, ging ein Ruck durch Land und Leute, der von dem, was einst war, kaum noch Spuren offen ließ.

Wer meint, dass Oman sich allein über die örtlichen Benzinpreise einen Namen macht (der Preis für einen Liter ist derart gering, dass man in Deutschland dafür kaum etwas im Supermarkt bekommt außer einem Stück Frischhefe), der wird in „Herrinnen des Mondes“ einer kulturellen Offenbarung gegenüberstehen. Schonungslos und liebevoll beschreibt Jokha Alharthi die Wandlung eines Landes über einen Zeitraum von sieben Jahrzehnten. Alte Traditionen werden erhalten, dafür sorgt schon der Landesvater. Gleichzeitig wird der Reichtum, der unter der Erde liegt mit dem Rest der Welt zu teilen sein. Was bedeutet, dass Traditionen auf vermeintlichen Fortschritt trifft. Die Benennung der Tochter nach dem monetären Moloch ist da nur der Anfang. Wer „Herrinnen des Mondes“ gelesen hat, ist mit der omanischen Kultur besser vertraut als jeder Pauschaltourist, der das Land besucht.

Warum ist Weihnachten am 7. Januar?

Reizthema Religion. Für die Einen unverzichtbarer Teil ihres Lebens, für die Anderen unverzichtbarer Teil ihrer Lebenseinstellung. Die Gründe auf beiden Seiten sind so unterschiedlich wie die Religionen selbst. Missverständnisse sind immer vorprogrammiert, weil Religionen Leitfäden sind und die Hüter dieser Leitfäden sie meist auch „nur“ interpretieren können. Da ist es wichtig einmal genauer hinzuschauen.

Wolfgang Reinbold tut dies in seinem Podcast, der es mittlerweile auch ns lineare Fernsehen geschafft hat. Das best of ist nun – bereits zum weiten Mal – in einem Buch zusammengefasst.

Besonders in der Weihnachtszeit kommen in unseren Breiten wieder verstärkt religiöse Rituale in Mode, man hört so einiges hier und da – aber bei der Einordnung – warum, weshalb, wieso? – hapert es bei den meisten. Wer weiß schon warum Gold, Weihrauch, Myrrhe von den Heiligen drei Königen als Geschenke mitgebracht wurden?! Und wie viel hat eigentlich Halloween mit christlicher Lehre zu tun? Und was ist ein Segen, im eigentlichen Sinn?

Das geht’s schon los. Worte, die jeder kennt, sicherlich auch benutzt. Aber! Den sinn dahinter kennen nur wenige. Dieses kleine Buch – reichlich einhundert Seiten – trägt wahrscheinlich mehr zum Verständnis der Religionen bei als so mancher Interpret der Religionen.

Da immer mehr Religionen zum Alltag gehören, werden in diesem Buch nicht nur die vorherrschenden Religionen und ihre Traditionen vorgestellt, sondern auch Religionsgemeinschaften besprochen, die man vielerorts nur dem Namen nach kennt. Aleviten, Eziden, Bahai. Gehört – ja, Wissen – mmmmh, wahrscheinlich weniger.

Natürlich kann man das Buch hintereinander weglesen wie einen Roman. Doch schon bald wird man merken, dass doch nicht alles im Bewusstsein stecken geblieben ist. Also empfiehlt es sich, das Buch häppchenweise zu genießen. So liest man an einem Tag von Abraham, Chanukka und König Charles und hat schon einen weiten Bogen geschlagen.

50 Museen in Wien, die Sie gesehen haben müssen

Wien ohne Museumsbesuch ist möglich, aber … irgendwie auch wieder nicht. Die Stadt atmet an jeder Ecke royale Geschichte aus. Man kommt nicht umhin, doch mal die Nase in das eine oder andere Museum zu stecken. Man muss sie ja auch nicht suchen.

Allen voran die Albertina. Das Museum für alle, die vor allem vor Gemälden tief in sie eindringen können. Zentral gelegen, ist das Museum nicht nur Regenschutz an Schmuddeltagen, sondern und vor allem ein Augenschmaus für jedermann. Allein schon Monets Seerosen fesseln so manchen Durchgangsbesucher für etliche Minuten.

Gleich um die Ecke wird’s übersichtlicher – die Albertina kann auf einen Fundus im siebenstelligen Bereich zurückgreifen. Das Globusmuseum mag um einiges kleiner sein, doch die elegante Präsentation in den teils deckenhohen Vitrinen lässt Fernweh aufkommen. Und im Erdgeschoss ist die gesamte Welt versammelt. Denn befindet sich das Esperanto-Museum. Erstaunlich wie präsent die künstliche Weltsprache sich darstellen lässt.

Was wäre Wien ohne kaiserliche Pracht?! Nicht zu übersehen sind das Kunst- und das Naturhistorische Museum. Prachtbauten, die traditionelle Darstellung der Objekte im modernen Gewand vereinen. Beide gehören zu Wien wie Donau und Schnitzel.

Dieser Museumsband verbindet informativ und sehr gut handhabbar das Offensichtliche, Bekannte mit dem leicht versteckten. Wer weiß schon, dass Wiener Aktionismus und ein Kindermuseum (wo nun wirklich niemand meckert, wenn man Kunst anfasst) ebenso zum Stadtbild gehören wie Uhrenmuseum und Illusionen, die einen fast vergessen lassen, dass man sich in einem Museum befindet – sofern man dies möchte.

Wer Wien schon kennt, war garantiert schon in einem der zahlreichen Museen. Sie gehören einfach zu einem Wientrip dazu. Doch die kleinen, versteckten Kleinode machen diesen handlichen Band zu einem unverzichtbaren Begleiter. Und oft ist es erstaunlich nah bis zum nächsten Schauerlebnis. Die klare Gliederung und die kurzen ausreichenden Infos zur weiteren Recherche sind ein echter Anker auf dem voller Attraktionen steckenden Wiener Pflaster.

Vieles hat man vielleicht schon mal gehört, doch so recht weiß man dann doch nichts darüber. Die Texte im Buch sind Ratgeber, Appetitmacher und Wegweiser in Einem. Von Kaffee über Militärgeschichte bis zu Musik – auch hier gilt wieder: es geht nicht ohne! – ist alles dabei. Stellt sich nur die Frage wie viele Museen schafft man in einem Urlaub? Wie viele Besuche sind nötig, um Seite für Seite aus dem Buch zu besuchen? Denn eines steht fest: Man will sie alle sehen!

Der verzauberte Junge von der Brücke

Der verzauberte Junge von der Brücke – dieser Untertitel macht neugierig. Wie kann eine Brücke verzaubern? Und warum wird dieser Folker mit F geschrieben? Da hat man das Buch noch nicht einmal auf- und schon ist man in seinen Bann geschlagen.

Folker Bohnet ist sicherlich nicht der bekannteste Name der Schauspieler in Deutschland. Sieht man ihn allerdings, erkennt man ihn umgehend. Dieses jungenhafte Lächeln – dieses immer währende jungenhafte Lächeln – war sein Markenzeichen. Sein Sohn Ilja hat drei Jahre vor dem Tod des Vaters mit ihm Gespräche geführt. Interviews im strengeren Sinne, doch sind es Gespräche zwischen Zweien, die sich so nah stehen wie niemand anderes.

Folker Bohnet wurde 1937 in Berlin geboren, verbrachte die Kriegskindheit in Sachsen, floh mit den Eltern in den 50ern in den Westen. Jurist sollte er werden, Schauspielkunst wurde es schließlich. Als an der Schauspielschule junge unverbrauchte Gesichter für einen Film gesucht wurden, überzeugte er. Der, der suchte, war Bernhard Wicki. Und der Film, für den er suchte, sollte „Die Brücke“ sein. Heute weiß man, dass dieser Film ein Meilenstein ist, und er für viele Schauspieler ein furioser Auftakt für erfolgreiche Karrieren war. Für Folker Bohnet war es bereits sein zweite große Rolle. Kurz zuvor stand er mit einem anderen noch sehr jungen, später sehr erfolgreichen Schauspielkommilitonen vor der Kamera: Götz George.

Es folgte ein wildes Leben, ein erfolgreiches Leben, ein abwechslungsreiches Leben. Schon in jungen Jahren gingen im Hause Bohnet Schauspieler und weitere Künstler ein und aus. Kunst war sein Leben. In jeder Hinsicht.

Es ist die Stille, die in den Worten dieser Biographie liegt, die den Leser so fasziniert. Keine ausschweifenden Gelage und Klatschgeschichten, die hier marktschreierisch zu manchem Skandal breitgetreten werden. Der Grandseigneur hat genossen und erzählt nun aus seinem Leben ohne die Stimmer zu erheben oder mit den Finger auf Andere zu zeigen.

Filmgeschichte, Kunstgeschichte, Künstlerleben – ganz ohne Verbitterung. Das ewige Lächeln im Gesicht war die ebenbürtige Geste zum ewig lächelnden Herzen von Folker Bohnet. Wer dieses Buch – vielleicht wegen der scheinbar fehlenden Prominenz des Namens – liegenlässt, darf sich nicht wundern, wenn er nicht als Film- und Schauspielexperte mehr angesehen wird.

Dog Star

Blackie ist weg und mal wieder da. Weg aus der Besserungsanstalt. In der war er, weil … ja, das ist erstmal unerheblich. Jedenfalls ist er weg. Einfach so. Schnappt sich seine Gitarre und läuft los. Immer der Sonne entgegen. Was so poetisch klingt, ist einfach nur eine Wegbeschreibung. Er springt auf einen LKW. Lässt sich treiben. Um der Poesie dieses „sich die Freiheit um die Nase wehen zu lassen“ noch mehr die Intensität zu klauen, lässt Donald Windham die zärtlichen Versuche mit der Gitarre ein wenig Romantik aufkommen zu lassen im Ruckeln des LKWs ersticken.

Blackie will heim. Heim bedeutet für ihn allerdings nur dorthin zu gehen, wo seine Mutter wohnt. Die ist sichtlich überrascht ihn zu sehen. Fragt aber auch nicht weiter nach, was ihn wieder zurücktreibt. Die Besserungsanstalt anzurufen, um den Verlust der Einrichtung als Bereicherung ihres eigenen Lebens zu erklären, kommt ihr aber nicht in den Sinn. Blackie ist halt wieder da. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Whitey ist der Grund warum Blackie ausgebüchst ist. Whitey, der Junge, der allen Respekt einflößte. Groß, stark, durchsetzungsfähig. Das hat Blackie imponiert. Doch Whitey – wer’s immer noch nicht kapiert hat: Gegensätze ziehen sich an. In diesem Fall in jeder Hinsicht – war mehr als nur ein Leidensgenosse in der Besserungsanstalt.

Und nun ist Blackie zurück. Heimatliche Gefühle kommen gar nicht erst auf. Alles um ihn herum scheint in Gleichgültigkeit zu versinken. Empathie, Zuneigung oder gar Liebe ist vollkommen aus dieser trostlosen Gegend verbannt. Kindheitserinnerungen als ausgelassene Spiele draußen – drinnen gab’s ja nichts, an dem man sich erfreuen konnte! – sind blasse Reflexionen einer Zeit, die es nie zu geben schien. Blackie ist wie ein Gast ohne Attribute. Willkommen oder nicht willkommen spielt keine Rolle. Er ist da. Und damit muss es auch reichen. Wer ihm Liebe entgegenbringt, wird von ihm mit Gefühlskälte zurückgegrüßt. Blackie will nur eines: Ein Leben führen. So mit Job und so. Mit Haus und so. Mit Anhang? Naja, vielleicht.

Donald Windham zeichnet ein Bild einer emotional verkümmerten Umgebung und Gesellschaft. Alle, was an Gefühlen zur Sprache kommt, ist kein Werben um Zuneigung, sondern um Anerkennung. Niemand schient in der Lage zu sein sich selbst zu erkennen. Es geht nur darum irgendwie irgendeinen Platz zu finden. Das Glück ist eine launige Diva. Das hat Blackie längst erkannt. Auch wenn er es sicher nicht so poetisch ausdrücken würde. Sein Funken Hoffnung ist die Tatsache, dass er sich noch nicht ganz aufgegeben hat. Er will vorankommen. Warum und wie, das ist ihm schleierhaft. Festgefahrene Strukturen geben ihm den Halt, der er nicht zu finden wagt. Das Buch erschien in einer Zeit, in der der „Fänger im Roggen“ die Literaturszene gehörig durchschüttelte. „Dog Star“ stößt nicht ins selbe Horn, sondern ist in seiner nur oberflächlichen emotionalen Verkümmertheit viel intensiver.

Zwei Menschen

Was ein Urlaub?! Mehrere Monate Rom. In den 60ern. Als Amerikaner. Forrest und seine Frau genießen die Zeit in der Ewigen Stadt … nicht. Nicht im Ansatz! Sie nörgelt, er lässt es zu. Es gibt keinen Grund, keine gründe für den Streit, den anhaltenden Zwist. Sie reist ab. Er ist … irgendwas zwischen konsterniert und erleichtert. Wobei Letztes doch die Oberhand gewinnt. Sie reden noch miteinander. Schreiben sich. Sie hält ihn über den Stand der Familie – sie haben zwei Töchter – auf dem Laufenden. Doch mehr ist da nicht (mehr).

Forrest war Broker in New York, stammte aus dem Mittleren Westen. Für ihn war New York mit all seinem Trubel die große weite Welt. Jetzt streift er durch Rom. Sitzt in Cafés, beobachtet Leute. Auch einen Jungen. Der ist ihm schon einmal begegnet. Er hat ihn schon einmal gesehen. Hier kommt Donald Windhams unglaubliches Gefühl für Sprache mit voller Wucht zum Einsatz. Er könnte jetzt eine herzzerreißende, von unerfüllten Sehnsüchten zerfleischende Gier heraufbeschwören oder sich in endlosen Gefühlsduseleien ergehen. Er belässt es bei fast nüchterner Betrachtung. Forrest spricht den Jungen an. Nimmt ihn mit…

Marcello ist Siebzehn. Ein Alter, in dem die Welt ihn nicht versteht. Die Welt ist in allernächster Nähe vor allem sein Vater. Er ist der Ernährer der Familie und bestimmt somit alles. Alles! Ein Patrone reinsten Ausmaßes. Die verständnisvolle Mama tut, was in ihrer Macht steht, um ihrem Nachwuchs die Auswüchse dieser Macht hinfortzufegen. Das klappt mal besser, mal weniger gut. Bildung für die Mädchen und Arbeit für den Sohn: Nein und Ja. So sieht es im Leben der jungen Heranwachsenden aus.

Auch Marcello irrt durch die Stadt. Party hier, Party da. Und den Kopf voller Pläne. Und vor allem voller Fragen.

Auch wenn Forrest und Marcello zig Jahre trennen, so trommeln diese Fragen wie ein steter Hammerschlag gegen alles, was lärmt. Es wird ein Jahr, das ihnen die Augen öffnen wird. Türen werden sich öffnen. So mancher Schleier wird durchlässiger. Happy end inklusive.

Donald Windham ließ sich Zeit zwischen seinem Erstling „Dogstar“, der einschlug wie eine Bombe und selbst Thomas Mann zu Schwärmereien hinreißen ließ. Mitte der 60er Jahre barg auch diese Storyline um einen verheirateten Strohwitwer abroad und einem sinnsuchenden Teenager Zündstoff für eine skandalträchtige Betrachtung. „Zwei Menschen“ ist so neutral verfasst, fast komplett befreit von jeglicher Emotionalität auf den ersten Blick, dass Kritiker von vornherein mundtot gemacht wurden. Es sind „nur zweihundert Seiten“. Doch jede Seite berauscht den Leser auf wundersame Weise.

Anderswo atmet man, hier lebt man

Wie war das noch, damals, in Paris? Oder: Wie war das damals in Paris? Isolde Ohlbaum war – damals – in Paris. Als Au pair. Saugte die französische Lebenskultur und mit ihr die alles überstrahlende Hauptstadt auf. Doch nicht der Eiffelturm und die Prachtboulevards sind ihr vor allem in Erinnerung geblieben. Es sind die Spaziergänge, die Lesenachmittage, die Kinoabende, die ihr im Gedächtnis geblieben sind. Das viel strapazierte Wort von Freiheit trägt sie nicht wie eine Fahne vor sich her. Sie hat sie erlebt, diese liberté.

Ihre Fotos lassen Träume erstehen. Entspanntes Leben wohin das Auge blickt. Und dann diese Kurzportraits! Menschen, die Frankreich präsentieren. Erinnerungen an Frauen und Männer, die die französisch-deutsche Freundschaft symbolisieren wie nur wenige. Wilhelm Hausenstein zum Beispiel. Generalkonsul in Paris, von Adenauer ernannt, von den Nazis verbannt. Er ebnete unter anderem mit den Weg zu der Versöhnung von Deutschen und Franzosen.

Es sind die kurzen Absätze, die – zusammen mit den Portraitfotos und den Stadtansichten – ein Bild der Traumstadt Paris zeichnen, das so nachhaltig in den Köpfen der Leser haften bleibt. Es sind mehr als nur bloße Erinnerungen an Zeiten, die uns in Schwarz-Weiß träumen lassen. Es sind Alltagsszenen voller Eleganz und Nostalgie. Isolde Ohlbaum hat die unruhigen Zeiten der späten Sechsziger miterlebt. Und damit sind nicht die Straßenschlachten gemeint. Die Nouvelle vague war ihr näher als die Demonstranten. Weil hier wahrhafte Veränderungen nachhaltig gestaltet wurden. Steine werfen kann jeder. Veränderungen anstoßen und weiterzuverfolgen, dazu braucht man Courage und Ideen. Die fand sie in den Kinos und den Schriften. Den Verfassern dieser Schriften ist dieses Buch ebenso gewidmet wie denen, die immer noch träumen wollen.

Ein kleines Buch, das in seiner Einzigartigkeit jedem vom Stuhl in den Parks von Paris haut. Und das bis heute!

Der Schneeball

Es ist wie im Märchen. Ein zauberhafter Ball soll es sein. Anne und Anne, die sich um Verwechslungen zu vermeiden zu gern als Anna (Anna K.) zu erkennen gibt, beobachten das Treiben in diesem weitläufigen Palast. Es ist der Jahreswechsel, irgendwann, irgendwo in London. Es rauscht auf dem Ball. An den Wänden, die Kleider  der gut betuchten (und teils betagten) Damen, im Gebälk – ach was, ein rauschendes Fest ist es in jeder Hinsicht. Anne und Anna lästern. Die beobachten gaaaaanz genau wer mit wem was wann und vor allem wie macht, wer tuschelt, wer tanzt mit wem.

Auch der gerade alt genug für den Ball zu seienden Ruth fällt dieser Ball wie ein Schneekristall ins Auge. Sie ist ganz aufgeregt. Dass ihre Eltern dabei sind, schert sie wenig. Sie ist die Chronistin – wenn auch nicht in offizieller Funktion, denn das wäre fatal, da sie sonst einiges verpassen würde. Ruth schreibt brav Tagebuch. Ein Partycrasher eigentlich. Denn wer will im wildesten Partytreiben schon jemanden sehen wie er etwas in ein Tagebuch notiert – Instagram vor ewigen Zeiten, sozusagen.

Der Schnee fällt. Alle freuen sich wie kleine Kinder darüber. Es werden Küsse ausgetauscht. Manche hinter Masken. Nicht jeder weiß von er oder sie gerade geküsst wurde. Anna K. auch nicht. Don Giovanni war es. Mehr weiß sie nicht. Dieses Mal ist es ein Er, der die Party überstürzt verlässt. Allerdings mit beiden Schuhen an den Füßen. Nichts mit Aschenputtel reloaded.

Wie aufgeladen wird auch Ruth die Party, den Ball verlassen. Zwischenzeitlich musste sie ihr Tagebuch beiseitelegen. Im Bentley von Papa war die Premierenstimmung einfach zu aufregend, um mit Stift und Feder weiter zu hantieren…

Teeangerkomödie, noblesse oblige, Screwball comedy, Drama und ein Hauch Märchen – Brigid Brophy lädt zum Ball, der für jeden etwas parat hält. Als „plus 1“ darf man bei den Gemeinheiten zeuge sein, bei so mancher Zickerei Pate stehen oder einfach nur vergnügter Zuschauer sein. Und das alles in einem Meer aus Worten, die einzeln betrachtet keine Alternative erlauben. Hier sitzt jeder Satz, jedes Komma und jeder Buchstabe am richtigen Ort. Schnell, manchmal viel zu schnell wühlt man sich durch die Betrachtungen von Menschen, die hier ihr eigenes Süppchen kochen. Und dennoch amüsiert man sich hier prächtig, wenn man von einer scheinbar harmlosen Beobachtung sehenden Auges auf etwas zuschlittert, das auch gern als Katastrophe kleineren Ausmaßes betrachtet werden kann. Der Begriff Schneeballeffekt bekommt hier eine ganz andere Bedeutung.

An der Kreuzung der Parallelstraßen

Strukturanpassungsprogramm – jeder, den es treffen könnte, ist in erhöhter Alarmbereitschaft. Was nicht heißt, dass ihn dieser Euphemismus nicht trifft. Eric trifft es. Bisher war arbeitete er für den Internationalen Währungsfond in Haïti, der Mitte der 90er – und in dieser Zeit befinden wir uns – das Währungssystem des Inselstaates kontrollieren sollte. Ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt war.

Eric ist also seinen Job los! Der Minister hat ihn einfach mit einem Federstrich gekündigt. Das ohnehin nicht besonders reizvolle Leben ist noch trister geworden. Eric – der Beamte mit dem sicheren Job – ist zu Eric ohne Zukunft geworden. Von einem Moment zum Anderen, einfach so! Ein Funken Wille glimmt noch in dem vor Wut bebenden Körper. Er wird … ja, was wird Eric tun?

Haïti wird seit Jahrzehnten von Regierungen regiert, die in Wahrheit aber das Land ausplündern und ausbluten lassen. Papa Doc und Baby Doc haben einer ganzen Generation von brutalen Gangstern vorgelebt wie man mit Gewalt ein ganzes Land in Schach hält. Geregelt ist hier kaum etwas. Eric weiß das. Er hat das Elend jeden Tag gesehen, konnte ihm aber aus dem Weg gehen. Er wusste, wer das Sagen hat, wem man am besten aus dem Weg geht.

Jetzt ist er an der Reihe. Jahrelang hat er sich geduckt, seine Arbeit verrichtet. Und wofür? Nicht einmal einen feuchten Händedruck gab’s zum Abschied. Raus, Aus, Schluss, Ende. Der dienstbeflissene Eric wird zum … Eric weiß, wer hinter der Entlassung steckt. Mataro, der Finanzminister. Und der wohnt … Eric weiß ganz genau, wo er wohnt. Er soll ihm Rede und Antwort stehen. Oder besser: Um Gnade winseln. Auf dem Weg gibt sich Eric keine Mühe seine Wut zu verbergen. Was Andere Können, kann er auch! Ein Geldwechsler – arrogantes Gesindel in den Augen Erics – ist sein erstes Opfer. Peng! Einer weniger. Vicky ist der nächste. Mataros Vergnügungsspielzeug. Ein schnippiger Speichellecker, der auch nur versucht sich durchzuschlagen. Es nützt nichts. Die Kugel zerfetzt den smart geschminkten Körper. Nun ist Mataro dran! Endlich Rache. Doch auch der hat einen Einflüsterer. So wie jeder in Haïti, der in gehobener Stellung wirkt. Mit Mataro als Schutzschild und im Schlepptau wird Erics Rachefeldzug zu einem Blutbad unmenschlichen Ausmaßes. Niemand kann ihm den Spiegel vorhalten! Viele versuchen es. Doch das Zerrbild, ficht Eric nicht an. Er ist seines Glückes Schmied, das Eisen trägt er schon in der Hand.

Tief verwurzelter Glaube und die unbändige Wut sind die Pfefferschoten in dieser an sich schon scharfen Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. Gary Victor hat den Roman vor einem Vierteljahrhundert geschrieben. Das verheerende Erdbeben, dass das Land einmal mehr wegen einer Katastrophe in die Nachrichten brachte, brodelt noch tief unter der Erde. Die Probleme des Landes nach den Diktaturen der Duvaliers (Papa und Baby Doc) waren damals schon ein unlösbares Desaster. Und sind es bis heute. Das Buch hat seit Erscheinen nichts von seiner Aktualität und seinem Wahrheitsgehalt verloren. Gangs würgen bis heute alles Verwertbare aus dem geschundenen Land heraus. Hilfe von Außen ist nicht zu erwarten. Nur noch größere Gangster, können dem treiben Einhalt gebieten. Eric ist nun wirklich kein Heiliger. Sein Amoklauf ist durch nichts zu rechtfertigen. Ein klein wenig Verständnis bringt man dann doch für ihn auf. Und das ist das Traurige an diesem Buch. Mitleid für Gewalt – das darf es einfach nicht geben!

Verlorene Freunde

Donald Windham wurde von Tennessee Williams als das größte Talent seit Carson McCullers bezeichnet. Eine Ehre, aber mit dem Beigeschmack, dass Williams Truman Capote mit diesem Lob eins auswischen wollte. Und schon sind wir bei en beiden Hauptakteuren dieser Erinnerungen aus der Feder eines Talents, das hierzulande weitaus weniger bekannt ist als Capote/Williams.

Und Donald Windham kannte beide gut. Sehr gut. Besser als viele andere. Er arbeitete mit ihnen, reiste mit ihnen, lebte mit ihnen. Als der Erfolg beide überrannte – und nichts anderes war es – verwandelten sie sich in Menschen, mit denen Windham nicht mehr klar kam. Seine Erinnerungen sind kleine Liebeserklärungen unter dem Deckmantel der Faktenweitergabe. Aber es sind und bleiben Liebeserklärungen. Mal nüchtern, mal euphorisch, mal sentimental.

Wir sind in den 40er/50er Jahren als sowohl Capote als auch Williams unangefochtene Stars der Literatur- bzw. Theaterszene Amerikas sind. Windham steht ihnen in Nichts nach. Doch es kann immer nur einen König geben. Traurig oder gar missgünstig ist er aber nicht. Nicht offen, vielleicht. Windham hat viele Freunde- Manche stehen im näher als andere. Genauso sind sie berühmter als andere oder eben weniger bekannt. Doch alle schweben im selben Künstlerkosmos. André Gide und Gore Vidal zählen zu diesem erlesenen Kreis. Taormina, Capri, generell Italien hat es ihnen angetan. Sie bewohnen Villen, die vorher schon von den Großen ihrer Zunft bewohnt wurden. Inspiration und Restitution, Anspannung und Abenteuer sind ihnen gleichermaßen Antrieb und Ansporn.

Beim Lesen folgt man ihnen gern auf ihren Spuren, auf der steten Suche nach Anerkennung und Abschottung. Erfolge und Niederlagen verschmelzen in der Erinnerung Windhams an lieb gewonnene Freunde und deren zu frühen Tod. Ein lautes Lachen, ein gequältes Lächeln sind ebenbürtig.

„Verlorene Freunde“ wurde bei Tennesse Williams viel dramatischer und aufgebauschter erscheinen. Bei Truman Capote wäre es eine gemeine Abrechnung mit all denen, die ihn umgaben und umschmeichelten. Bei Donald Windham sind es kleine Diamanten, die funkeln und die er funkeln lässt. Er hat sein Glück gefunden. Nicht bei, neben oder mit Capote oder Williams – das gemeinsame Glück war nur zeitlich begrenzt – er fand die große Liebe, öfter als gewollt, doch er fand sie. Diese Erinnerungen an Freunde, die sich veränderten Bedingungen (freiwillig?) ergaben, sind eine Zeitreise, die immer noch fasziniert.